Nominiert für den Bachmannpreis 2009

 

 

Karl-Gustav Ruch

Hinter der Wand

 

 

Donnerstag, 3.9.

Es ist nicht genau festzustellen, woher es kommt; ich weiss nur: es ist in der alten Mauer, die uns vom Nachbarhaus trennt und zugleich mit ihm verbindet. Kommt es aus dem dritten, aus dem vierten Stock, oder wird es über unergründliche Kanäle hinaufgeleitet von der ersten Etage oder vom Parterre? Da ist ein leises Kratzen, so wie wenn jemand auf der anderen Seite mit einem Griffel rhythmisch über den rauen Verputz fährt; bald scheint es eher ein feines Scharren, Schaben oder Krabbeln, dann ein gedämpftes Klopfen. Es wandert in der Wand hin und her, manchmal ist es zum Greifen nah, dann wieder so fern und schwach, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich es wirklich höre oder mir nur einbilde. Ich schlage in den Wörterbüchern nach: scharren, schnarren, schaben, schürfen, ritzen, raspeln, quarren, rasseln, prasseln, klöppeln; aber ich fürchte, es ist ein Geräusch, dem man mit den bekannten Vokabeln nicht beikommt. Dann besinne ich mich auf meine Mutter, die sich das Wort einfach erfand, wenn sie kein passendes fand – und das geschah beinahe in jedem Satz – und notiere in mein Heft: chrismeln, chrageln, streuseln, chröseln, scharrklöppeln, kloppscharren. Ich unterstreiche scharrklöppeln. Aber es hat die falsche Farbe. Ich nehme alle Wörter zurück.

Es ist beruhigend, an einer schützenden Brandmauer zu wohnen, deren Innenleben man kennt. Mir sind – bis auf dieses neue Geräusch – nicht nur die meisten Laute in der Wand vertraut, ich kenne auch die dazu gehörenden Geschichten. Da ist die hustende Witwe María im dritten Stock. Immer um 8.30 morgens stellt sie das Geschirr in den Chromstahltrog – direkt hinter meinem Schreibtisch – und beginnt zu spülen. Es rumpelt, scheppert, klirrt, das Abwasserrohr bullert heimelig, und wenn sie eine schwere Pfanne in den Trog plumpsen lässt, rieselt der Mörtel in der Mauer. Nach dem Abwasch beginnt sie zu husten, stellt ihre Krücken auf den Fliesenboden und humpelt keuchend ins Wohnzimmer. Die dumpfen Schläge der Stockeinsätze entfernen sich. Der Fernseher geht an. Plauderprogramme, Serien. Ab ca. 12.30 ist sie wieder direkt hinter der Wand, hüstelt und hantiert in der Küche. Um 14.00 rumpelt es wieder gemütlich im Spültrog, dann das Aufschlagen der Krücken auf den Steinfliesen, Husten, der Fernseher geht an. Dasselbe wiederholt sich abends. Um 21.30 scheppert’s, um 22.00 ist Ruh im dritten Stock. Gegen 23.00 leichtes Vibrieren, die Witwe schnarcht. Auch ihr Bett, in dem sie vor 79 Jahren geboren wurde, liegt an der Brandmauer, denn dort fühlt man sich sicher, dort fühlt man sich wohl. 1939, in einer der schlimmsten Bombennächte kurz vor dem Ende der Republik, stand die Elfjährige mit Vater, Mutter und dem kleinen Manuel im Schlafzimmer, eng an die Mauer gepresst unter dem hölzernen Kruzifix, es donnerte, es pfiff, durch die geborstenen Fenster drang das Flackern der Feuersbrunst, überall beissender Rauch, dann schlug es ein im Lichthof, rundherum stürzte alles ein, aber die Brandmauer, sie stand sicher und fest und hielt die Balken in der Verankerung, die angrenzenden Zimmer und das Treppenhaus blieben unversehrt und das hölzerne Kruzifix hing leicht schief über Marías Kopf.

Jeden Morgen um 9.00 beginnt irgendwo das Klavier. Tonleitern rasen bedroh­lich durch die Mauer. Dur, Moll, Halbtonleitern, Ganztonleitern, chromatisch versetzt schrauben sie sich in schwindelnde Höhen, fallen in brummende Tiefen und steigen wieder hinauf in den beruhigenden Ausgangston; Terzen und Sextimen lösen sich aus der Wand, wirbeln durch die Luft, flattern zurück und rollen grollend aus im Mauerwerk. Es folgen ein paar Takte einer Bach-Fuge; sie bricht ab, beginnt wieder von vorn, und das Klavier arbeitet sich Schritt für Schritt durch die Partitur hindurch bis zum erlösenden Schlussakkord in D-Moll. Um 10.50 brechen die Tonwirbel jäh ab und der Klavierdeckel schlägt zu. Der Maestro hat sein Morgentraining hinter sich, die Finger laufen wie geschmiert und er glaubt wieder an seinen baldigen Durchbruch. Um 11.00 beginnen die Klavierstunden. Jede volle Stunde wird eingeläutet mit Tonleitern, schnell, dann langsam mit Aussetzern – Lehrer, Schüler - dann Chopin-Etüden, Bach-Präludien, der Anfang einer Fuge, langsam, rasche Wiederholung, schleppendes Echo – Schüler, Lehrer, Schüler – dann Abbruch, der Maestro schlägt den Klavierdeckel zu.

In den Klavierpausen hört man zwischen 9.15 und 9.30 das Abwasserrohr rauschen, und meistens setzt gleichzeitig eine schneidende Tenorstimme ein: Qui presso a lei io rinascer mi sento, e dal soffio d'amor rigenerato … Das ist Alfredo, so nenne ich ihn nach seiner Lieblingsrolle in La Traviata, er singt, duscht, das Wasser in den Rohren gurgelt vergnügt, Vivere io voglio a te fedel. Dell' universo immemore io vivo quasi in ciel, … io vivo quasi in ciel …  Nach dem morgendlichen Duschen gönnt er uns Nachbarn eine kurze Pause. Dann schlägt eine Tür. Alfredo springt wie ein Jüngling die Treppe hinunter zum Briefkasten – ich hör’s durch das Fenster zum Lichthof – und dort sucht er nach der ersehnten Nachricht, denn Alfredo hat vor Jahren eine Oper geschrieben und schickt seine Partitur jahraus, jahrein in die Welt, an Musikverlage, Wettbewerbe und Ausschreibungen. Aber meistens findet er im Briefkasten nur ein paar Werbebriefe für eine neue Waschmaschine oder für den Pizza-Hausservice, und manchmal auch eine Antwort auf seine Hoffnung: Alfredo überfliegt den Text, bis er das entscheidende Wort findet: leider. Wir danken für die Zusendung Ihrer Partitur und haben sie mit Interesse geprüft. LeiderSie waren so freundlich, uns Ihre Partitur anzuvertrauen, leider … Wir haben uns mit grossem Interesse mit Ihrer Partitur befasst, müssen Ihnen aber leider … dann steigt Alfredo als alter Mann die Treppe hoch, und man hört eine Stunde lang nichts mehr von ihm. Gegen 11.00 geht es dann wieder los: Alfredo rennt mit seiner Stimme wutschnaubend Tonleitern hinauf, hinunter. Das dauert etwa zwanzig Minuten. Dann trippelt es wieder im Treppenhaus und Alfredo entschwindet aus meinem Hörfeld. Am Nachmittag sehe ich ihn manchmal in der Metro-Station bei der Oper. Dort wird er Orpheus. Er schreit Arien und Rezitative gegen die gekachelten Wände, die hier in der Unterwelt so wunderschön mitschreien und zurückrufen, dass es eine Lust ist, Cortese Eco, cortese Eco amorosa, che sconsolata sei, und wenn ein Zug einfährt oder abfährt, steigert er sich und schleudert ihm eine besonders virtuose Tirade entgegen: In così grave mia fiera sventura non ho pianto però tanto che basti, sein heller Tenor mischt sich in das Quietschen der Bremsen, in das Surren der sich beschleunigenden Elektromotoren, das Schlagen der Räder, und in diesem Momenten fühlt er, Alfredo, Orpheus, wie seine Seele aufgeht im Tosen und Brausen der Welt.

Auch aus der Dachwohnung dringen ab und zu Geräusche zu mir herunter. Ungefähr alle halben Stunden rauscht’s oder blubbert’s kurz im Abwasserrohr, das mein Badezimmer mit Alfredos Dusche und der darüber liegenden Küche verbindet. Dort oben wohnt ein österreichischer Schriftsteller um die 50. Er kam vor etwa drei Jahren, mietete die Dachkammer und liess sich nieder an seinem Schreibtisch. Auf der Strasse oder im Café habe ich ihn nie gesehen, aber manchmal treffe ich ihn im Treppenhaus, immer mit einem dicken Umschlag unterm Arm. Er nickt, sagt Servus, drückt sich rasch an mir vorbei und verzieht sich wieder aufs Dach. Einmal habe ich mich vor meiner Tür breit gemacht und ihn  zur Rede gestellt: Hallo, wie geht’s, wie läuft’s mit der Schreiberei? Er blieb verdutzt stehen, warf seinen grauen Pferdeschwanz hinter den Rücken, strich sich über den Bart und räusperte sich, so als habe er schon lange keinen Laut mehr aus seiner Kehle gepresst. – Was, bitteschön, Schreiberei? Ich schreibereie nicht, ich schreibe literarische Texte. – Okay, sagte ich, wie steht’s also mit den literarischen Texten? – Fünf Theaterstücke habe er geschrieben, Hunderte von Gedichten, auch einen Erzählband, aber alles bleibe in der Schublade, er werfe seine Perlen nicht vor die Säue, der ganze deutschsprachige Literaturbetrieb, die ganze Literaturszene sei eine fette, heruntergekommene Hure und er scheue sie wie der Teufel das Weihwasser, nein, der Vergleich sei nicht aus der Luft gegriffen, als Schriftsteller müsse man sich fernhalten vom Weihwasser und von den Huren, nur vom Teufel dürfe man sich reiten lassen, und da sei er genau richtig hier in diesem Land und da oben auf dem Dach, freilich – , er räusperte sich und versuchte ein Grinsen  – nur da, mittendrin und gleichzeitig über dem Getose der Grossstadt, finde er die notwendige Abgeschiedenheit für die dämonische Inspiration usw. Meinen ostentativen Blick auf den Umschlag, den er unter seinem Arm hielt und in dem ich eine Manuskriptsendung an einen Verlag vermutete, ignorierte er. Woran er denn jetzt schreibe? Er suche einen neuen Stil, die kakophonische Synthese. Das Hauptwerk, an dem er seit acht Jahren arbeite, bestehe aus Hunderten von Mikrogeschichten, die er zu einer kakophonischen Sinfonie in Sonatensatzform zusammenfügen wolle; aber eben das kakophonische Zusammenfügen sei die Schwierigkeit, und seit Jahren sei er mit nichts anderem beschäftigt als eben mit dieser kakophonischen Synthese, die die einzelnen Bestandteile in einem höheren diabolisch-kosmischen Ganzen verbinden solle ohne zu vereinigen, ohne die Widersprüche aufzuheben, ohne zu harmonisieren eben … Den Rest seiner wortreichen Rede habe ich nicht verstanden und mich eiligst mit irgendeinem Vorwand verabschiedet. Ich bin froh, dass der Österreicher seither zum lakonischen Servus zurückgekehrt ist, und auch seine kakophonischen Spülgeräusche stören mich überhaupt nicht, ganz im Gegenteil: sie schenken mir eine Art akustische Geborgenheit und erinnern mich daran, dass ich nicht ganz allein bin an der Wand.

 

Freitag, 4.9.

Das fremde Geräusch irritiert mich, es stört mich in meiner Nestwärme. Ich lege das Ohr an die Wand. Es ist kein homogener Laut und er wird wahrscheinlich von mehr als einem Menschen verursacht. Menschen? Vielleicht sind es ja Mäuse oder Ratten oder eine eingeschlossene Katze. Es kommt und geht ohne erkennbare Regelmäßigkeit. Ich kann mir das neue Geräusch ins Gedächtnis rufen, aber ich kann es keiner verständlichen Handlung zuordnen. Es bleibt ein Geräusch ohne verlässliche Geschichte.  

Ein Schlag. Die Wand zittert, der Mörtel rieselt. Das war die Tür der Nachbarn unten im dritten Stock. Me cago en la puta, krächzt eine heisere Stimme. Es kracht. Ein Fuss tritt an die Holztür. Hija de puta, que te mato! War’s Joan, der Sohn, der Autos und Motorräder knackt, war’s Jordi, der Ehemann, der unten in der Bar sein Arbeitslosengeld versäuft, oder waren’s beide zugleich? Schreie sind so schwer zu unterscheiden wie Fusstritte an die Tür. Durchs Treppenhaus hallen wütende Schritte. Dann schlägt unten die Haustür. Leichtes Nachbeben unter meinen Füssen. Nun ist es ruhig in der Wohnung unter mir. Zu ruhig. Eine Ruhe, die zu winseln beginnt, zu schluchzen, zu weinen, zu heulen, crescendiert und dann losschiesst wie ein Maschinengewehr: Malditos gilipollas, sinvergüenzas, hijos de puta, malcriados, gandulos, subnormales, basura, no puedo más  … Das ist Pepa bei ihrem Solo, zu dem sie nur ansetzt, wenn man sie alleine lässt. Wieder Schläge an die Tür. Pepa behämmert jetzt mit blossen Fäusten und Pantoffeln dieselbe Tür, auf die vorher ihr Mann und ihr Sohn eingehauen haben, bevor sie aus der Wohnung gestürmt sind. Endlich werden die Schläge schwächer, das Gebrüll lässt nach, Pepa ist erschöpft.

Ich gehe nach unten und sehe nach. Es ist still in der Wohnung. Die Tür von Jordi und Pepa hat wegen der vielen Schläge einen Riss im Holz, durch den nachts ein gelber Lichtstrahl schimmert. Ich drücke das Auge an die breiteste Stelle des Spalts und kann Pepas Hackenschuhe, die Turnschuhe ihres Sohnes und die Pantoffeln ihres Mannes auf dem schwarz-weiss karierten Muster der Bodenfliesen sehen. – Me cago en la puta! schreit plötzlich eine Stimme aus der Wohnung. Ich schrecke auf und drücke mich neben der Tür an die Wand. Me cago en la puta! Das ist Rocco, Pepas Papagei, der einzige im Haus, dem die Schimpferei immer Spass macht. Ich gucke wieder durch den Spalt. In der Türschwelle zum Wohnzimmer liegt ein schwarzes Haarbündel. Pepas Haar? Eine auf den Boden geworfene Perücke? Unten im Treppenhaus knarrt die Haustür und fällt in die Angeln, Schritte hallen. Ich blicke hinunter in den Treppenschacht. Eine behaarte Hand windet sich über den Handlauf geschwind das Geländer hinauf. Asthmatisches Keuchen. Ich steige lautlos nach oben und verdrücke mich in meine Wohnung.

 

Sonntag, 6. 9.

Sonntagsruhe. Ausser dem periodischen Wasserröhren-Rauschen war’s den ganzen Morgen ruhig in der Mauer. Es ist anzunehmen, dass die meisten Hausbewohner das schöne Wetter genutzt haben und ausgeflogen sind. Wenn ich das Ohr an die kalte Wand drücke, nur ein ödes Sausen. Sssssssssss. Ich nehme das Ohr von der Wand. Es saust weiter. Mein eigenes Ohrensausen? Nächste Woche muss ich einen Ohrenarzt konsultieren.

Nach dem Mittagessen, als ich, wie alle, die im Haus geblieben sind, mich zur Siesta niederlege, schläft auch die Wand. Sie schnarcht. Sie gurrt. Sie seufzt. Gegen 17.00 beginnt sie zu stöhnen: ah, oh, zweistimmig sich überlagernd, dann versetzt, Frage, Antwort, rhythmisches Keuchen, abschwellend, anschwellend, te quiero, te quiero – und endlich zwei erlösende Schreie unisono. – Eeh, eeh, doppelt Rocco nach,  Me cago en la puta! Niemand im Haus weiss genau, wo die beiden es treiben: im vorderen Nachbarhaus, im hinteren? Man hört sie immer nur am Sonntagnachmittag. Vielleicht steigen sie in einer Wohnung ab, die ihnen Bekannte freundlicherweise für die Sonntagsfreude zur Verfügung stellen.

Am frühen Abend hämmert ein harter Drumbeat durch die Wand. Das ist die Studenten-WG im 4. Stock. Eine rhythmische Basslinie steigt ein, ein Synthesizer jault bissige Klangfetzen, dann beginnt eine Stimme im Reguetón-Rhythmus: Aunque madrugue, ni Dios me ayuda, quiero gritar y salir de mi sombra, en mi pozo solo el eco me nombra … und Rocco scheint sich an diesem beseelten Sonntagnachmittag besonders zu erfreuen: Eeh, eeh, me cago en la puta!

 

Montag, 7.9.

Heute Morgen hat mich Pepa im Treppenhaus gefragt, ob ich das seltsame Geräusch in der Mauer bei mir oben auch höre. – Es klingt ganz sonderbar, als ob jemand mit einem Nagel ständig am Verputz kratzt. Manchmal scheint es eher zu schlagen oder zu rasseln.  – Ganz genau, rief Olga vom 1. Stock, die eben die Treppe heraufgeschnauft kam, Schlagen und Rasseln, wie mit einer Kette. Wenn da nur nicht … stellt euch vor – und sie wedelte mit einer Zeitung und deutete auf einen Artikel mit der Überschrift: Entführter Bankdirektor immer noch nicht gefunden. Untertitel: Erste Hinweise deuten auf ETA. – Im Café Ferran haben sie ihm die Pistole an die Schläfe, babbelte Olga aufgeregt, am helllichten Tag, auf die Strasse gezerrt, und hier in der Altstadt sollen sie ihn, hier haben sie ihn versteckt, denn weit können die ja nicht, sagt die Polizei. Hier steht’s! Olga fuchtelte wild mit der Zeitung herum, so dass man keinen Buchstaben lesen konnte. – Wenn die nur nicht … immer wenn ich dieses Geräusch von da drüben – aber Olga beendete auch diesen Satz nicht – Stellt euch vor: Rasseln, Kettenrasseln … vielleicht sollten wir die Polizei – Me cago en la puta, rief Roco aus Pepas offener Wohnungstür. – Halt den Schnabel! schrie Pepa und zog die Tür von aussen zu. – Polizei? Auf gar keinen Fall, die Polizei kommt mir nicht ins Haus. Die werden dich gleich festnehmen, weil sie dich für verrückt halten.

Und ich stelle mir vor: Auf der anderen Seite der Bankdirektor, in massgeschneidertem Anzug und Krawatte, Rücken zur Wand, die aufgescheuerten Handgelenke hinter dem Rücken mit einer dicken Kette zusammengebunden, die Kette mit einer Ringschraube an unserer Brandmauer befestigt, die uns 30 cm dick voreinander schützt, und bei jeder Bewegung rasselt die Kette, schabt am Verputz, bei jeder seiner Zuckungen und Windungen schlägt sie an die Wand und zerrt an der Ringschraube, und die Brandmauer leitet das unsichtbare Drama weiter in unsere Wohnzimmer, und wir schlürfen seelenruhig unseren Tee.

 

Mittwoch, 9.9.

Habe den Hausverwalter angerufen. Der hat gelacht, als ich ihm von den merkwürdigen Geräuschen in der Wand berichtete. – Es raspelt in der Mauer? Schon mal was gehört von Termiten? Die ganze Stadt ist verseucht, das Zentrum ist geradezu unterwandert von diesen Viechern, die wühlen sich von Haus zu Haus, bohren sich in die alten Holzbalken und Türrahmen, zu Tausenden fressen sie sich ihren Weg durch Gips und Gemäuer, und wenn sie nagen, kann man sie hören, wenn man das Ohr an die Balken hält.

Ich schlage nach in einem Lexikon: Viele Arten haben eine weisse oder weissgelbliche Körperfarbe. In der Regel werden Termiten zwischen 2 und 20 mm lang. Sie dringen scharenweise in die menschlichen Wohnungen ein und zerstören namentlich Holzwerk, indem sie dasselbe im Innern völlig zerfressen, die äußere Oberfläche aber verschonen, so dass scheinbar unversehrte Gegenstände bei geringer Erschütterung zusammenbrechen. Zu Tausenden fressen sich also diese weissen Insekten mit ihren Mandibeln durch unsere alte Brandmauer auf der Suche nach einem Holzbalken und bohren sich Gänge hinauf, hinunter, hinüber zum Nachbarn und herüber zu mir, unterhöhlen uns und wühlen und nagen, bis die Mauer eines Tages hohl ist, einstürzt und uns alle in die Tiefe reisst.

Ich traue mich nicht, das Ohr an die Wand zu halten.

 

Donnerstag, 10.9.

Ich kann nicht glauben, dass das Geräusch nur von Termiten verursacht wird. Vielleicht mischt das Raspeln und Nagen der Termiten mit im akustischen Sammelsurium; aber da muss noch etwas anderes in oder hinter der Wand sein, auch Pepa hat mir das heute bestätigt: Ein leises Winseln zieht sich wie ein dünner Faden durch das Geräuschband; deutlich zu hören, wenn man das Ohr in der Küche flach an die gekachelte Wand drückt. Vielleicht doch ein eingesperrter Hund oder eine Katze – oder ein Kind?

Manchmal stelle ich mir vor, dass auf der anderen Seite der Wand ein Anderer sitzt, einer, der wie ich die Wand abhört, mein Leben abhorcht und mich zum Narren hält. Wände haben Ohren. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird der Andere zur fixen Idee.

 

Freitag, 11.9.

Pepa hat gestern mit einer Freundin des Nachbarhauses gesprochen. Es seien illegale Rumänen, und zwar Zigeuner. Sie wohnen auf meiner Höhe, im dritten Stock. Ob es sich um eine oder mehrere Familien handelt, kann man bei diesen Leuten natürlich nie mit Sicherheit sagen. Im Treppenhaus wimmelt es geradezu von Zigeunern, sie kochen im Wohnzimmer auf offenem Feuer, das ganze Treppenhaus stinkt nach abgestandenem Rauch und gebratenem Fisch, auch Kindergeschrei hat man aus der Wohnung gehört, aber die Kinder dürfen die Wohnung nicht verlassen, sie sind den ganzen Tag allein und eingesperrt, und die Erwachsenen lungern auf der Strasse herum und gehen dunklen Geschäften nach. Die Kinder bekritzeln und bekratzen die Wand mit Fingernägeln und Schraubenziehern und sonstigen Gegenständen, die ihnen gerade in die Hände fallen, die gehen ja nicht in die Schule und haben keine Schreibtafel, daher die Geräusche in der Wand.

Olga aus dem ersten Stock meint, es seien keine Rumänen. Sie beruft sich auf die Friseurin im Erdgeschoss, die behauptet, drüben hausen Neger, Schwarzafrikaner, schwarz wie die Nacht. Sie sieht sie, wenn sie ins Nachbarhaus treten. Immigranten. Sie sind wie die meisten dieser armen Kreaturen mit einem Schlauchboot übers Meer gekommen, gehören sicher zu jenen Familien, über die letzthin im Fernsehen berichtet wurde: Motorschaden, das Boot trieb tagelang auf offener See, acht Erwachsene und fünf Babys verdursteten, aber sie konnten nur die toten Babys ins Meer werfen, die Körper der Erwachsenen waren zu schwer um sie über die Bordwand zu hieven, so lagen sie übereinander, als man sie fand, die Lebenden über den Halbtoten und die Halbtoten über den Toten, und bei der Rettungsaktion bei stürmischer See ertranken drei weitere, die können ja nicht schwimmen, die armen Schweine. Die Frauen prostituieren sich jetzt und die Männer arbeiten als Zuhälter.

 

Samstag, 12.9.

Ein Nachbar, der vis-à-vis wohnt, hat mir im Café erzählt, es seien dunkle  Leute, aber nicht Neger, sondern Araber oder Pakistaner mit Bärten, Mohammedaner eben. Es sei ein Kommen und Gehen. Er nimmt an, die betreiben hier eine illegale Moschee. Einige kommen sogar mit ihrem eigenen Gebetsteppich. Sie haben alle Geschwüre, Narben und zum Teil offene Wunden an der Stirn, weil sie beim Beten mit den Köpfen auf den Boden schlagen. Dann betonte er noch einmal: Pakistaner, Araber, Mohammedaner – und nach einer Pause: Stell dir vor, die drehen hier ein Ding … wär’ ja nicht das erste Mal, dass die was aushecken, und keiner ahnt was, nein, der Staat zahlt ihnen auch noch die Sozialwohnungen und subventioniert ihre Moscheen. So blöd können ja nur die Sozialisten sein.

Ich gehe zum Nachbarhaus und schaue mir die Schilder unter den Klingeln an. Es gibt drei Wohnungen im dritten Stock. Ich läute zuerst bei 3, 1. Rauschen. Dann knackt die Gegensprechanlage. – Si! Husten. Das ist die Witwe. Ich schweige, dann läute ich bei 3, 2. Eine Kinderstimme ruft: Si, quien? – Ich möchte zu den Immigranten, rufe ich in die Anlage. Keine Antwort. Wo wohnen die Immigranten? – Die Chinesen im Parterre, oder die Philippiner im zweiten Stock? – Rumänen oder Schwarze gibt es hier keine? – Nein, aber  Pakistaner oder so was, die wohnen im Dritten. – Welche Wohnung? – Ich glaube, dritte Tür. Ich läute bei 3, 3. Knacken in der Gegensprech­anlage, Rauschen, Stille. Ich läute noch einmal. – Omar? sagt eine Frauenstimme. Omar?

Ich gehe nach Hause, schalte den Computer ein und suche im Online-Telefonbuch nach Strasse, Hausnummer, Stock- und Wohnungsnummer, Name: Omar. Auf dem Bildschirm erscheint eine Telefonnummer und ein Name: Omar Al-Sharar. Ich wähle die Nummer und lasse es lange läuten. Schritte hinter der Wand. Ich hänge auf. Jetzt ganz deutlich Gemurmel und Geklopfe. Muslimische Gebete? Das könnten natürlich auch die Selbstgespräche der Witwe sein, aber ich bringe das Bild nicht mehr aus dem Kopf: das rhythmische Heben und Senken Richtung Mekka, das Aufschlagen der Köpfe auf dem Boden, Allah ist gross, Allah ist mächtig, Allah ist mit den Standhaften.

 

Sonntag, 13. 9.

Am Morgen habe ich wieder ein paar Mal versucht anzurufen. Beim dritten oder vierten Versuch knackt es in der Leitung, die Stimme des Andern in gebrochenem Englisch: Hello, you Jack? Ich antworte: Yes. – Call this night. Ich sage: Okay. Dann hängt er auf.

Die Nachbarn sind daheim geblieben wegen dem schlechten Wetter und die Wand ist übersättigt mit Geräuschen. An einen friedlichen Mittagsschlaf ist nicht zu denken. Die Witwe rumpelt mit dem Geschirr im Chromstahltrog, synkopisch dazu der Reguetón aus der Studenten-WG, Aunque madrugue, ni Dios me ayuda, quiero gritar y salir de mi sombra, en mi pozo solo el eco me nombra, es rauscht und blubbert behaglich im Wasserrohr, der Schriftsteller auf dem Dach spült seine kakophonischen Notizen ins Klo, Alfredo duscht und singt vergnügt Qui presso a lei io rinascer mi sento, e dal soffio d'amor rigenerato …, auch der Pianist ist zu Hause geblieben und wirbelt Tonleitern durch die Wand, Dur, Moll, chromatisch rauf und runter, rhythmisches Keuchen, ah, oh, te quiero, que te quiero, rostige Ketten reiben sich an wunden Handgelenken, blutige Kinderhände schürfen am Verputz, dunkelhäutige Mohammedaner schlagen ihre Köpfe an der Mauer wund, Allah ist gross, Allah ist mächtig, es murmelt stöhnt singt rauscht gurgelt klopft rappt knarrt winselt schnarrt und schnarcht - dann ein Riss in der Wand, es starrt das grausige Auge des Anderen, Tausende weisser Termiten krabbeln aus der Höhle, umkrabbeln mich, ziehen mich hinein in die Mauer, ich bin eine Termite und kribble mit meinen Artgenossen, wir bohren uns mit unseren Mandibeln den Weg durch die Wand, wühlen uns durch Gipsplatten, morschen Mörtel, fressen uns durch faule Holzbalken, kriechen durch Schlitze, Rohre, elektrische Leitungen, wir bohren, nagen und bahnen uns den Weg hinüber, hinüber – Me cago en la puta, eine Tür schlägt. Das Bett zittert, die Wand erbebt.  

Es ist still heute Nacht, ganz still. Ich streiche mit der Hand über die kalte Wand. Dann wähle ich die Nummer.

 

 

__