Schneeweiss

 

Der schwarze Abdul trommelt wieder. Direkt unter unserer Wohnung. Bong-bong bam, bong-baga bam, und das stundenlang. Je später der Abend, desto eindringlicher sein Trommelschlag. Die Gasse bebt, die Fenster zittern. Gruppen scharen sich um ihn, erschreckte Köpfe zeigen sich in Fenstern. An einen gemütlichen Fernsehabend ist nicht zu denken. Einmal warf ich wütend eine Handvoll Münze aus dem Fenster und hoffte, dass er endlich nun verschwinde. Das Gegenteil geschah: Er bedankte sich mit einem Trommelwirbel, der die Tauben von den Dächern riss.

Eines Tages traf ich Abdul weinend vor der Haustür. Die Polizei habe ihm verboten, hier zu trommeln und habe seine Djembe konfisziert. Ich gab ihm 20 Euro, damit er sein Instrument einlösen könne.

Abdul strahlt und zeigt schneeweisse Zähne.

Am nächsten Tag stand Abdul wieder vor der Tür. Man habe ihn aus dem Zimmer geworfen, er könne die Miete nicht bezahlen. Man kann ja nicht so sein, man kann doch nicht, denn Abdul muss sonst auf der Strasse schlafen. Ich überliess Abdul unser Sofa, für ein, zwei Tage, sagte ich meiner Frau, ein zwei Tage gehen schnell vorbei.

Zwei Wochen später sass Abdul immer noch mit seiner Djembe auf unserem Sofa und trommelte: Bong-bong bam, bong-baga bam. Wie werden wir den wieder los? Meine Frau und ich wussten weder aus noch ein. So sprachen wir mit ihm. Und Abdul beteuerte, nächste Woche sicher, übernächste Woche ganz bestimmt eine andere Unterkunft zu suchen. Und Arbeit, eine richtige Arbeit habe er auch in Aussicht, das sei so gut wie versprochen.

Und Abdul leuchtet weiss mit seinen Zähnen.

Drei Wochen später sass Abdul immer noch auf unserem Sofa, strahlte den ganzen Tag und spielte auf seiner Djembe. Bong-bong bam, bong-baga bam.

Abdul, so kann das nicht weitergehen, Abdul, so kann das nicht.

Abdul weint aus grossen, weissen Augen.

Am nächsten Tag schon strahlte Abdul wieder und spielte seine neue Komposition, die sei ganz für uns, ganz für uns. Auf alle Arten versuchte ich ihn loszuwerden: sagte ihm, die Nachbarn hätten reklamiert, wir seien nächste Woche in den Ferien, die Schwiegermutter sei zu Tod erkrankt und meine Frau im achten Monat schwanger.

Abdul streut ein weisses Lachen und freut sich auf das Kind.

Dann sagte ich: Ein Anruf aus dem Konsulat, Abdul, deine Mutter ist gestorben, du musst noch heute in den Senegal. Ich zahlte ihm den Flug.

Abdul schliesst den weissen Mund.

Zwei Wochen später stand Abdul wieder in unserer Tür und strahlt und lacht. Hinter ihm stand seine Mutter.

 

Und schneeweiss lacht es auch aus ihrem Mund.

 

(aus Hinter der Wand)


 

Curro Moreno Campanillas

(Ausschnitt)

 

 Curro Moreno Campanillas wohnt im Vorort Santa M., hat Frau und zwei Kinder, arbeitet gelegentlich und sucht Arbeit dann und wann. Und Curro verspielt sein spärliches Geld am liebsten am Geldautomaten der Bar La Granja, trinkt einen Carajillo, ein paar Wermuts zuviel, raucht dazu einen Puro, spuckt auf den Boden und flucht, dass Gott erbarm'. Einer der geringfügigsten Defekte von Curro ist, dass er nicht existiert. Aber das fällt nicht ins Gewicht, findet Curro, eine Bagatelle, um die er sich nicht im geringsten kümmert. Was ist schon Existenz angesichts all der Dinge, die man Tag für Tag zu erledigen hat. Er steht auf jeden Tag, wäscht sich sein Gesicht, spuckt in den Spültrog, nimmt seinen Koffer, tritt auf die Strasse und beginnt seine Runde.

Leute wie Curro tauchen plötzlich neben uns auf, sie scheinen auf gleicher Höhe zu gehen, aber dann kommen sie uns immer näher, schneiden uns diagonal den Weg und drängen uns vom Kurs. Und wir sehen uns um und werden uns gewahr: Wir gehen nicht auf einer Strasse, sondern wir treiben in einem Fluss.

Die Rambla mündet ins Meer und hat Gezeiten. An einigen Stellen öffnet sie sich zu einem Strom. Zu gewissen Zeiten strömen wir abwärts zum Meer, zu andern Zeiten schwappen wir zurück ins Land. Es gibt immer die, die im falschen Moment in die falsche Richtung gehen und gegen die Strömung kämpfen. Dann gibt es jene, die die Rambla im Neunziggradwinkel durchkreuzen. Sie überqueren sie auf dem kürzesten Weg, weil sie auf der andern Seite etwas Wichtiges zu erledigen haben. Sie stören nicht, denn sie unterbrechen kaum den Fluss der Dinge. Und dann gibt es die Touristen. Sie stören den natürlichen Strom der Gezeiten. Zu Hunderten bleiben sie immer wieder stehen, am falschen Ort, zur falschen Zeit: vor einem lebenden Standbild, vor einem Strassenkünstler, vor einem Kiosk, vor einem Bettler, vor einem Stadtplan. Ich gehe in sicherem Abstand an ihnen vorbei, denn ihre Bewegungen sind unkontrollierbar.

 

Aber am meisten bedrängen uns Leute wie Curro. Curro kommt nämlich immer in der Diagonale. Er gehört zu den verlorenen Fällen, jenen ohne erkennbares Ziel. Sie strömen nicht mit den andern, auch nicht gegen sie, noch durchqueren sie den Strom auf dem schnellsten Weg. Die Diagonale ist die unmöglichste aller Gehrichtungen. Man bewegt sich mit niemandem und gegen niemanden. 

(...)

 

(aus Hinter der Wand)

 


Das Kondom

 

Als Antonio die erbeutete Brieftasche öffnet, fin­det er 25 Duros und drei Kondome. Leuchthäubchen, Rotes Teufelchen, mit Scho­ko­ladeüberzug steht auf den Verpackungs­hüllen. Er wirft die leere Brieftasche in den nächsten Papierkorb und spuckt auf den Boden. Mierda, das reicht nicht mal für zwei Bier. Er steckt sich die Münzen in die Hosentasche und betrach­tet den Rest der Beute. Produkt aus hochwertigem Latex. Druckgeprüft. Reservoir: Teufelchen mit Gummihörnern. Bitte das umlaufende Rollband ganz entrollen, steht auf einem der Päck­chen. Verdammt, was mach ich nur mit diesem Scheiss! Er will die drei Kondome der Brieftasche hinterher­werfen, be­sinnt sich anders und steckt sie dem vorbeihastenden Curro in den Arbeitskit­tel. Curro merkt nichts, denn Curro hat es eilig. Er ist wieder einmal zu spät unter­wegs. Er hatte seine Mappe zu Hause vergessen und musste noch einmal umkehren.

            Am Abend ist bei Curro zu Hause der Teufel los. Curros Frau hat in seinem Kittel drei Präservative gefunden, dabei machen sie's doch ohne, wenn überhaupt.

Du gehst zu einer andern, schreit seine Frau und wirft die drei Präservative demonstrativ auf den Tisch.

Ich weiss wirklich nicht ... ! Auf Curros Unschuldsbeteuerungen flie­gen Teller und Tassen durch die Luft. 

            Während die Eltern in der Küche streiten, finden die Zwil­linge Ale­jandro und Juan Miguel auf dem Tisch im Wohnzimmer drei einge­packte Bal­lone. Sie blasen einen auf, lachen über das sich auf­richtende Teu­felchen und lassen ihn zum Fenster rausfliegen. Den mit dem Leuchthäubchen füllen sie mit Wasser und lassen ihn un­ten auf dem Gehsteig zerplatzen. Den dritten nehmen sie am näch­sten Tag mit in die Schule.

            Was ist dort hinten schon wieder los, ruft der Lehrer, denn wo die beiden Zwillinge sitzen, ist immer was im Gang. Juan Miguel lässt et­was verschwinden.

Aha! Zeig mal her! Da liegt doch in seinem Etui tatsächlich ein Kondom. Das fehlte noch! Der Lehrer lässt das Päckchen in der Hosentasche verschwinden. Die Klasse lacht.

Doch was gibt's da zu lachen?

            Abends sitzt der Lehrer in Pacos Bar und will das Bier bezah­len. Da fällt ihm das Kondom aus der Hosentasche.

Diese Jugend ... ! sagt er zu Paco, zahlt und lässt das Kondom auf dem Tresen liegen.

            Kurz darauf kommt Eduardo verstimmt in die Bar.

Hab ich hier vielleicht meine Brieftasche liegen lassen? Was für ein Scheisstag! Drei Tage habe ich auf den Moment gewartet. Da hab ich sie end­lich so weit, wir ver­abreden uns fürs Kino, und im entscheidenden Moment steh ich da und hab keine Moneten. Brieftasche weg. Da wird sie echt etepetete. Und als wir zum Aussichtspunkt fahren – ich hab meinem Alten für heute die Karre abgeluchst – da hab ich na­tür­lich auch die Präser nicht mit, die ich sonst immer in der Briefta­sche hab, für alle Fälle. Und sie war echt zickig und wollte auf keinen Fall ohne. Schöner Reinfall!

Hier ein kleines Gastgeschenk, sagt Paco, serviert ihm auf einem Teller ein kleines Päckchen und grinst.

            Als Eduardo die Bar verlässt, haut ihn ein Typ an. Ist er dem nicht schon mal begegnet?

Gib mir 20 Duros für ein Bier, krächzt An­tonio.

Bin selbst am Arsch, sagt Eduardo, aber vielleicht kannst du damit was anfangen. Er drückt Antonio im Vorbeigehen das ein­ge­packte Schokoladenkondom in die Hand. Was soll ich mit dem Scheiss, ich will ein Bier, ruft Antonio in die Nacht hinaus und wirft das Päck­chen auf die Fahrbahn. Zwanzig Sekunden später wird es von ei­nem Ford Escort zerquetscht und nach weiteren 3 Minuten von ei­nem Linienbus in den warmen Teer gewalzt.

            Dort, mitten zwischen zwei Zebrastreifen vor meiner Haustür, liegt es heute noch, das Kondom samt den Re­sten des Päckchens mit der ausgetretenen Aufschrift, für Monate konserviert. Und jedes­mal, wenn ich darübertrete, denke ich mir eine andere Geschichte aus.

 

aus Talgo Pendular

 

 

 


Chef

(Ausschnitt)

 

Kaufen, verrkaufen, Zeit ist Geld, kaufen, verrkaufen ... kräht Chef und fliegt an der Fensterfront vorbei. Er hat bessere Zeiten erlebt, das arme Tier. Ich lege ihm eine Hand voll Körner auf das Fen­stersims. Dort, wo er ge­thront hat, auf dem abgenagten Ast in seinem goldfarbenen Käfig gleich neben dem Arbeitstisch des damaligen Di­rektors, steht jetzt eine Kaffeemaschine. Früher war Chef die soziale Dreh­scheibe unseres Büros, und viele sahen in ihm mehr als das: Köbi Kern nannte ihn "die graue Eminenz".

Jeden Morgen, wenn unser früherer Chef ins Büro kam, grüsste und fütterte er zuerst den grünen Amazonas-Papagei, den er von uns zu seinem 25-jährigen Dienstjubiläum erhalten hatte. Der Chef, der Chef! mahnte Chef und schlug nervös mit seinen Flügeln, be­reits wenn der Chef vor der Tür stand. (Ein Freundschaftsdienst, für den ich mich heute noch mit den feinsten gerösteten Sonnenblu­men­kernen revanchiere.) So hat sich Chef sei­nen Namen selber gege­ben, auch wenn sich Susi Gehrig, unsere Speziali­stin für den Süd­osta­sienmarkt, gelegentlich als Taufpatin auf­spielt. Wenn der Chef mit Chef etwas geplaudert und sich selbst und Chef in Schwung ge­bracht hatte, versammelte er seine Mitarbei­ter, um Anweisungen und Auf­träge zu geben und die Arbeit zu orga­nisieren. Und jeden Morgen ge­schah dasselbe. Die kurz gehaltenen Befehle des Chefs wurden von Chef wiederholt - zu Beginn allerdings nicht immer ganz wortgetreu:

"Anna, mach bitte Kaffee, heute einen ganzen Liter, ich erwarte Be­such."

Eine ganse Literr, warrte Besuu! echote Chef.

Das erste Mal, als Chef die Anweisungen des Chefs wiederholte, bra­chen wir in schallendes Gelächter aus. Aber bald hatten wir uns daran gewöhnt und fanden nichts Besonderes mehr daran.

"Toni, vergiss nicht die vierprozentige Beteiligung an der Telecom Ita­lia abzustossen."

Teletom Italia abdustosse, akzentuierte Chef.

"Hightech-Sparte ausgliedern und im März an die Börse bringen!"

Berrse brringe, Berrse brringe, rekapitulierte Chef.

"Alexander, das Paket der BRM-Stammaktien heute unbedingt kau­fen und, falls es zur Übernahme kommt, morgen abstossen."

Aleanderr gaufen, abdosen, Uberrame gaufen, Aleanderr abdosen ...

Bei solchen Sätzen war Chef in den ersten Monaten grammatisch überfordert. Er pickte dann ein paar Wörter oder Satzfetzen heraus, brachte sie durcheinander und begann, in einer Art Verzweiflungs- oder Protestakt, sie zu repetieren – wie ein Grammophon mit einem Sprung in der Platte – crescendierte, bis seine Stimme in ein heiseres Gekreisch überschlug, und schloss dann, wenn er sich beru­higt hatte, mit seiner Lieblingssentenz ab:

Gaufen, verraufen, Seit is Gel.

Von meinem Arbeitsplatz aus konnte ich Chef stundenlang be­obachten. Wenn ich ein langweiliges Telefonat ausstehen oder bei­läufige Schreibarbeit am Computer erledigen musste, ruhte mein Blick wie von selbst auf ihm. Aber nicht nur ich hatte Zeit zu observie­ren, Chef hatte dafür bedeutend mehr: Er thronte stolz vor uns in seinem Käfig und schien unsere Arbeit zu überwachen.

Der Käfig stand meistens offen, aber Chef schien es zu Hause auf sei­nem abgenagten Ast besser zu behagen als in der unüber­sichtlichen und rätselhaften Welt, die ihn umgab. Er krallte sich an seinem Ast fest und verliess den sicheren Ausguck etwa alle zwei Stunden, um einen Stock tiefer ein paar Körner aus einem Futternapf zu picken; darauf kletterte er wieder zurück auf seinen Ast, streckte seine stei­fen Flügel, machte ein paar leere Schläge und zog seine Schwingen wieder an seinem Körper fest. Dann das ausgiebige Putzri­tual: Mit seinem Schnabel fuhr er in sein Gefieder, putzte und zupfte die Fe­dern einzeln und drehte und verdrehte dabei seinen Hals, bis man nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Er plusterte sein gezupftes Ge­fieder, schüttelte es durch und sass plötzlich, wie von Zauberhand gekämmt, auf seinem Ast – so als käme er eben vom Friseur. Zum Abschluss warf sich Chef in die Brust, plu­sterte den Hals, streckte seinen Kopf in die Höhe, drehte ihn um 180° und ver­barg ihn rück­lings zwischen seinen Fittichen. Dann kniff er seine weissbe­brillten Äuglein zu­sammen und sank in ein Schlum­merstünd­chen.

Ob Chef wirklich je schlief oder nur so tat, darüber waren wir uns nie einig. "Der schaltet nur auf Standby", meinte Köbi Kern. Tat­sache ist: Chef blinzelte. Seinem scharfen Weitwinkelblick entging keine Bewe­gung im Raum. Seinen Kopf tauchte er nur bis knapp zu den Augen ins Gefieder, und aus den grünen Federn schimmerten hinter halb zugekniffenen Äuglein immer seine wachen Pupillen. Die zwei schwarzen Punkte verschwanden nur, so schien es uns, um hin­ter vorge­schütztem Augenkneifen besser beobachten zu können. Bei der klein­sten verdächtigen Bewegung oder beim geringsten verdäch­tigen Ge­räusch vergrösserten sich die Punkte, tauchten aus dem Ge­fieder auf und trafen uns als Ertappte. Chefs Pupillen entging nichts. Läutete das Telefon, schienen sie zu kontrol­lieren, ob es je­mand ab­nahm; verliess jemand seinen Platz um aufs Klo zu gehen, verfolgten sie ihn bis zur Tür, und manchmal erhob sich der Schna­bel plötzlich aus dem Gefie­der und kreischte:

 

Gaufen, verrgaufen, Seit ist Geld!

(...)

(aus Talgo Pendular)